Texte


Artikel in der Norddeutschen Rundschau 9.2.2024

Sabine Kramer
Ich begleite mich auf der Pirsch ins Irgendwo
Laudatio anlässlich der Ausstellungseröffnung des 7. Kulturfrühlings Schlutup
29.04.2023
Dr. Jutta Petri

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich, hier stehen zu dürfen – mit Ihnen – in diesem Raum, in dem Kunst einen geschützten Ort hat und gleichzeitig im Leben steht.

Inmitten der Fülle und Vielfalt der Werke von Sabine Kramer.

Ich scheue mich, diese Worte zu verwenden: Fülle – Vielfalt. Sie klingen mittlerweile so abgedroschen – wollen wir nicht alle in der Fülle schwelgen und die bunte Vielfalt feiern? Ja! – Und den Schmerz der Erfahrung übersehen, überrauschen, weg reden, dass wir dann doch nur Einzelne sind, die in die Welt geworfen sind und sich bemühen, – mehr oder weniger – zu verarbeiten, zu verstehen, in Kontakt, in Resonanz zu gehen mit der Welt, den Dingen, mit den anderen, – sich der existenziellen Einsamkeit entgegenzustellen – zu kommunizieren? Aber in der Feier der Fülle und Vielfalt liegt auch die Freude an der für einen Menschen allein nicht abschließend, nicht umfassend, nicht endgültig begreifbaren Tiefe und Weite der Dinge im Raum – Entdeckerfreude! – mit allen Sinnen! Damit sind wir beim Thema!

Auf der Pirsch sein! Ins Irgendwo. Mit sich! Was für eine starke und zärtliche Metapher für – Leben. Danke – auch dafür, Sabine Kramer!

Der Blick gleitet über die Werke an den Wänden – die Zeichnungen, Linoldrucke, Eisengüsse, Stahlschnitte. Der Blick umrundet raumgreifende Objekte, ertastet Oberflächen aus Gips, Papier, Beton und Stahl, folgt den geschwungenen, zärtlich sich an Unbekanntes anschmiegenden Linien und springt im Stakkato von Linie zu Linie, dringt hinter Glas. Das Auge wird nicht müde zu schauen, wieder anderes zu entdecken.

Eines aber fehlt in der Ausstellung – eine Kunstform, die Sabine Kramer auch beherrscht – der poetische Text. Klicken Sie auf ihrer Website doch mal auf den Reiter „Texte“ oder genießen Sie – ganz analog – den Katalog aus dem Jahr 2002. Diese Texte sind eine andere Form ihrer Kunst. Sie haben eine ganz eigene Kraft, die Worte setzt und wirft. In ihrer Melodie, ihren Wortbildern scheinen die mit dem Sehsinn erfassten Bilder auf. Sie führen in die Tiefen des Vorstellungs- und Werkprozesses, der häufig am finalen Werk nicht mehr ablesbar ist.

Die Künstlerin scheint einen unermüdlichen Forscher- und Entdeckergeist zu haben: Im Laufe der letzten 30 Jahre hat sie den Bleistift über Papier und Holz geführt, in Acryl gemalt, Linol geschnitten, Beton in Schichten gestampft, Stahl gesägt, Ton modelliert, Programme für Stahlschnitte geschrieben, Eisen gegossen. Beim ersten Blick wird klar: Hier ist eine Erfinderin am Werk, die sich die Materialien selbst aneignet, sie erkundet, sie beherrscht und für ihre Formsprache zu nutzen weiß – den Stift, den Beton – vor allem aber den Stahl!

Stahl ist ein Material, das die Kultur-, Technik- und Industriegeschichte der Menschheit im Frieden wie im Krieg geprägt hat. Stahl ist – anders als Holz – kein Material, das für zufällige Momente im künstlerischen Prozess steht. Sabine Kramer veredelt die Oberflächen ihrer Stahlobjekte auf unterschiedliche Weise. Sie überlässt sie nicht dem Zufall. Die Oberflächenbehandlung ist der malerische Aspekt der Arbeit.

Die Werke dieser Ausstellung umspannen einen Zeitraum von gut 30 Jahren. Das mutet nach „Retrospektive“ an. In einem der Texte von Sabine Kramer heißt es: „Ich scheue eine Rückschau, den integrierenden Blick. Es war, es schmerzt, es ist verweht, aufgelöst. Es war nichts!“– Gilt das auch für ihre Werke? Wir Kunsthistoriker lieben die Rückschau – natürlich! Das ist unser Job: Möglichst ohne Widerworte der Künstler*innen die Werke kategorisieren, systematisieren, in der je – nach Belieben – Schatz- oder Grabbelkiste – der Kunstgeschichte herumwühlen, und das, was ist in Zusammenhänge stellen, – einordnen und tiefere Bedeutung ausloten. Auch dann, wenn da nichts war? Aber es ist! Das Werk ist Hier und Jetzt.

Ich möchte mich annähern – auf der Pirsch sein – die Werke beobachten, sie wirken lassen und dann – ja, dann muss ich tun, was wir alle tun müssen: Für mich einen Sinnzusammenhang herstellen, in der mir noch fremden Welt die Komplexität reduzieren. – Eine Auswahl treffen, einen Fokus setzen und dort weiter forschen.

Sabine Kramer schreibt:

„Ich werfe meine Magnetaugen aus; wenn etwas andockt, ziehe ich die Augen rein, begutachte den Fang und gebe ihn weiter ins Untersuchungslabor zur Bearbeitung.

Was haben wir da?

Was interessiert daran?

Welche Abwandlungen davon gibt es, welche fallen mir dazu ein?

Welche Bezüge, Verhaltensmöglichkeiten, Qualitäten finden sich?“

Sie hat für diese Haltung eine künstlerische Form gefunden: die Seh-Pocken. Nein, nicht Seepocken, sondern Seh-Pocken – mit h statt Doppel-e. Dabei handelt es sich um eine Serie von Objekten aus verzinntem Stahl, handgesägt, handgeformt und handgelötet. Die Objekte erinnern an Gefäße, Trichter, Vasen – an Haushaltsgeräte, aber irgendwie haben sie auch etwas eigentümlich Lebendiges an sich: Tüllen oder Schnäbel – oder eben: Form. Der Titel – Seh-Pocken – schränkt den Assoziationsspielraum ein und erweitert ihn zugleich: Wir haben es möglicherweise mit einem Organismus zu tun, der sich in eine Ummantelung gehüllt zum Fressen nur selten öffnet. Er kann es sich leisten, – das Futter schwimmt vorbei. So wie wir, die wir neugierig näherkommen, – angezogen von den seltsamen Formen – die Objekte mit den Augen untersuchen – und schwupps hineingezogen werden in den Hohlkörper. Wir sehen uns dann am Grund des Wesens. Es spiegelt uns.

Was macht es mit mir? Bin ich aufgesogen, werde ich verdaut oder schenkt es mir – im Grund – ein Spiegelbild meiner selbst? Oder ist es gar dasselbe? Wer erforscht hier wen? Irgendwie haben es mir diese Dinger angetan: Sie werden für mich lebendig durch den Titel, einen Text, den ich mit ihnen in Verbindung bringe und die Tatsache, dass Sabine Kramer jeden Zentimeter Stahl in der Hand hatte und mit großer Kraft gesägt, geformt und gelötet hat – und noch dazu die Betonsockel selbst goss und stampfte. – Ich werde Seepocken an den Buhnen und Steinkanten der Nordsee nie mehr ignorieren! Wer weiß, ob sie nicht auch philosophierende Wesen sind.

Ich gehe weiter auf die Pirsch, – beobachte die Werke von Sabine Kramer, pirsche mich an und frage mich: Was haben wir denn da? Was interessiert mich daran? Welche Gedanken fallen mir dazu ein? Diese übergebe ich Ihnen zur freundlichen persönlichen Prüfung und Weiterbearbeitung.

Ihre Magnetaugen hat Sabine Kramer stets ausgefahren. Sie beobachtet, notiert und bearbeitet unermüdlich. Im Kabinett – Sie haben es eben durchschritten – ist eine Serie mit kleinformatigen Landschaftszeichnungen aus dem Jahr 2007 zu sehen. – Diese Zeichnungen stehen am Anfang – rechts und links der Tür gehängt – wie ein Portalschmuck, der uns vorbereitet auf das, was noch kommt.

Die zeichnende Hand hat Grafitspuren auf dem Bildträger hinterlassen. Die raue Oberfläche der geweißten Holzplatte hat dem Stift Widerstand entgegengesetzt. Obwohl jede Linie präzise gesetzt ist, klar konturierend, sicher in ihrer suchenden Bewegung – ohne Korrektur ihres Verlaufs, arbeitet sich der weiche Grafit an der Oberfläche ab. Da verwischt sich die Linie minimal – kaum sichtbar – aber deutlich wahrzunehmen.

Diese Landschaften von oben sind Formerkundungen, Formsammlungen einer mit allen Sinnen aufmerksam Reisenden und Sammelnden. Sie erscheinen mir wie ein frühes Formvokabular des Werkes von Sabine Kramer, das in späteren Jahren fortgeschrieben wird: Da sehen wir halbkugelige Formen – modelliert, gerade, parallele Linien, präzise Schraffuren wie Ackerfurchen in der asymmetrischen Form, mäandernde Linien, Linien, die einen Mittelpunkt umfließen, zellartige Strukturen – wir nennen sie Straßen, Heuballen, Höhenlinien, Ackerfurchen. Muss diese Suche nach gegenständlicher Entsprechung sein? – Es ist nicht einfach, eine Form einfach nur Form sein zu lassen.

Hajo Schiff hat in seinem Aufsatz „Der scharfe Geschmack der an Stahl gewendeten Windrichtungen“ über die Formerfindungen im Werk Sabine Kramers geschrieben und erhellende Verknüpfungen zur Groteske des Manierismus hergestellt. Ich möchte an dieser Stelle diese Werkbetrachtung durch eine andere Perspektive ergänzen – denn am Ende eines der größten umwälzenden Prozesse in der Kunst – der Abstraktion – stand keine abstrakte, sondern eine konkrete Kunst, in der nicht nur Farbe und Form Bedeutungsträger sind, sondern auch das Material!

Im Anfang standen, so scheint es auch für Sabine Kramer, Bleistift und Papier: Werkzeuge künstlerischer Erfindung, willige Gehilfen bei der Darstellung von Formen. Aber dann …

Ich muss gestehen: Das Werk von Sabine Kramer hat mir einen Perspektivwechsel geschenkt: Was ist die Linie? Ist sie eine Kontur eines Gegenstandes und damit Hilfsmittel der Erkenntnis und Kommunikation? Ist sie eine Form beziehungsweise der Beginn einer Form – ihr Ursprung und Fortsetzung? Ist sie eine Grenze? Natürlich – eine Linie ist immer nur und absolut die Möglichkeit von allem. Sie ist Resultat einer Tätigkeit – ob als Kontur oder Schraffur. Nun ist sie im Werk von Sabine Kramer aber auch ein Schnitt. Zeichnen und schneiden, das sind für sie Gefühlssynonyme in ihrer Arbeit, so sagt sie es. Es entstehen Zeichnungsobjekte.

Dass die tätige Linie auch das Nichts sein kann, das schmale Loch dazwischen, das finde ich aufregend! Ich bin an Lucio Fontana erinnert, der die sakrosankte Fläche der Leinwand zerschnitt und den Raum ins Bild eindringen ließ.

Erst zeichnet Sabine Kramer, dann schneidet sie – mit aller Kraft den Stahl. Sie schneidet, schraffiert Löcher hinein, schafft Konturen um das Nichts, das Loch, – Häuser, Köpfe, Formen. Und sie sägt die Stahlplatte so, dass Stege stehen bleiben. Sägt und sägt und muss Acht geben, dass beim Sägen der Druck so verteilt wird, dass dünne Stege stehen bleiben. Von diesem Kraftaufwand ist nichts zu sehen. – Es bleibt eine Linie – die „Uferform des Nichts“, wie sie schreibt, ergibt sie nicht ein Etwas? Dieses Etwas kann gegenständlich sein, an Gegenständliches erinnern oder reine, aus den Dingen der Welt extrahierte Form.

Die Formsprache von Sabine Kramer changiert zwischen den Polen des Gegenständlichen und des Abstrakten. Sie selbst hat einmal davon gesprochen, dass es in ihr eine Art Bilderstreit gebe: Die sinnliche und in der gegenständlichen Konkretion des Heiligen vielleicht auch naiv anmutenden Bildsprache des Katholizismus, der ihre Kindheit prägte, und andererseits die Welt der reinen, vom Gegenständlichen absehenden abstrakten Form.

In dem Werk Erinnernde Gardine – eine große Arbeit aus dem Jahr 2016/18, wird ihr künstlerisches Spiel mit dem Gegenständlichen und abstrakten für mich besonders greifbar: Das Werk erinnert an den Faltenwurf eben einer Gardine: regelmäßig angeordnete Fäden, Knotenpunkte eines Gewebes – fließend fallend, sich überlagernd – gekrümmt, verzerrt, sich verdichtend und den Blick wieder freigebend. Sabine Kramer verdichtet die Struktur des Gewebes in Stahl und Kreisform und entfremdet den Gegenstand damit sich selbst: Unbeweglich, starr und in eine Form gegossen, die kein Gewebe halten kann, ist sie an eine Wand montiert und – schützt nicht das innen vor Blicken von außen, sondern, wie es scheint, eher das außen vor Blicken von innen. Der Blick fällt durch die Löcher in einen unbekannten weißen Raum. Ist dort Etwas? Schatten! – Erinnerungen an eine Gardine. Die Wand ist nicht nur im mechanischen Sinne des Wortes Bild-Träger, sondern auch im künstlerischen Sinn Bildträger. Auf ihr setzt sich der Dialog zwischen Etwas und Nichts fort.

Diese Wirkung ist kalkuliert. Nichts scheint dem Zufall überlassen: Der Schnitt, mit dem die geschlossene Stahlfläche aufgebrochen wird, ist im Computerprogramm festgelegt. Die minimalen Kanten, mit denen sich der Schnitt an Rundungen annähert, diese an die Tätigkeitsspur einer handgeführten Säge erinnernden Ränder sind ebenso kalkuliert wie die pulverbeschichtete Oberfläche und die Schattenwürfe der Stahlform auf der Wand. Die Stahlschnitte entfalten ihre Wirkung auch in dem schmalen Raum zwischen sich selbst und der Wand hinein.

In einigen Stahlschnitten ist eine weitere Ebene eingefügt: eine farbige, geschlossene Verdoppelung der vorderen Ebene. Diese Tafel fungiert als Hintergrund – Resonanzraum der geschnittenen Zeichnung, wie z. B. in Gefüge in Übereinstimmung dieses großartige Werk an der Stirnseite des Ausstellungsraumes, in dem das Motiv des Rechens mit der zellenartigen Struktur der neueren Werke kombiniert wird. Ein, ich möchte fast sagen, trostreiches Werk in verrückten Zeiten. Und dann dieses wunderbare Werk Raumkörper, dessen blumenartige Form mein absoluter Favorit ist.

Sabine Kramer ist auf der Pirsch, untersucht in ihrem Werk Formen, die sie aus der Welt der Dinge in einem langen Prozess extrahiert, abwandelt, in neue Beziehungen stellt. Sie ist eine Küstenseglerin, die Inseln ansteuert, die Tiefen und Untiefen untersucht – mit neugierigem Blick.
Sie probiert Formen an und mit unterschiedlichen Materialien aus. Sie untersucht Dynamiken, übersetzt sie in Strukturen, kombiniert diese wieder mit bereits gefundenen Formen. Für mich ist sie eine Suchende, eine Erfinderin. – Eine, die Ordnung schafft – mit Witz und Tiefe. Sie ist in der Welt mit ihrem Rechen unterwegs, stets bei der Arbeit. Sie ist mit sich selbst unterwegs und mit uns, – die wir uns an ihre Werke heranpirschen.

Dr. Jutta Petri

WIZ !8.7.2022
Glueckstaedter Fortuna_Gabriele Knoop Okt.2022
dav

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Textbeitrag von Sabine Kramer für Heiner Egge

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Hohe Kunst in Alter Schule 27_6_18 von Gaby Knoop

Nachdenken über künstlerisches Arbeiten/ Sabine Kramer

Ich begleite mich auf die Pirsch ins Irgendwo.

Ich werfe meine Magnetaugen aus; wenn etwas andockt, ziehe ich die Augen rein, begutachte den Fang und gebe ihn weiter ins Untersuchungslabor zur Bearbeitung.

Was haben wir da?
Was interessiert daran?
Welche Abwandlungen davon gibt es, welche fallen mir dazu ein?
Welche Bezüge, Verhaltensmöglichkeiten, Qualitäten finden sich?
Ich, das Auge, durch mich, den Sucher, fixiere durch mich, das Objektiv ein Objekt – an dem ich mich spiegele.

Was bedeutet begreifen ?
Deuten             Greifen
Bedeuten         Begreifen
Andeuten         Ergreifen
Hindeuten       Angreifen

unterschiedliche Arten wahr zu nehmen  ( auch das ein besitzanzeigendes Kompositionswort)
Nehmen     –     Annehmen    –    Einnehmen

Meint Verstehen: besitzen, einverleiben, fressen, verdauen, oder eher: dem  Maul entreißen und, sublimiert, den Augen überantworten, also auf Distanz setzen ?
Die Arbeit des Verstehens ist ein Tasten und Gründeln im Unbekannten, Unerkannten.
Deuten durch Aufnehmen ins Gedächtnisarchiv
Deuten durch sammeln und verbinden
Deuten durch ziehen von Formenextrakten
Das Verstehen ist ein plötzliches Aufleuchten. Wenn ich Glück habe, bleibt es ein Teil von mir. Häufig verflüchtigt sich der Erkenntnismoment so schnell wieder wie eine Sternschnuppe, der ich einen Wunsch mitschicke. Schade, aber aufregend.

Verschlüsselte Ansprache trifft mich aus der Außenwelt. Ich entschlüssele sie mit meinem mir eigenen und von mir entwickelten Formencode und gebe sie in dieser transponierten Form weiter zur gefälligen weiteren Interpretation durch den Betrachter.
Ich möchte meiner Mitteilung das „Leicht zu umarmende“ nehmen, ihm aber die Gabe verleihen anzustacheln, zu reizen.

 


Infrastruktur/ Gedanken zur Motivfindung

Zeichnend nehme ich die Welt war wie ein Küstensegler, der den Saum der Inseln abtastet nach Zugänglichkeit und Gefahr.
Zeichnend bewege ich mich vorwärts als Balancierende auf Stegen zwischen Löchern.
Ich erfahre, erzeichne was ich sehe und empfinde und bilde daraus Parallelwelten von Einsichten, Anschauungen und Weltfahrplänen.
Zeichnen und Schneiden sind Gefühlssynonyme in meiner Arbeit. So entstehen Zeichnungsobjekte, Reliefs vor der Wand und auch Raum zerschneidende Skulpturen. Zeichnung auf verschiedenen Bildgründen und Zeichnung als Objekt und Skulptur verzahnen sich.

Loch ist da wo Etwas nicht ist

In meiner Arbeit, ob Skulptur, Objekt oder Zeichnung, geht es um die gegenseitige Bedingtheit von Etwas und Nichts, um aufgebrochene Materie. Ganzes, Geschlossenes, Heiles ist gelöchert. Aus der abstrakten, reinen Form entstehen Sinnbilder: Haus Rad, Passage… Das wo und wie der Löcher, ihre Ordnung stigmatisiert die Objekte und weckt teils Assoziation von Verlassenheit, Bedrohung, Kälte, Brüchigkeit, Fall, um sich greifende Leere, teils Empfindungen von Befreiung, Überwindung von Schwere, Bewegung.
Loch ist da wo Etwas nicht ist. Eine Unversöhnlichkeit? Eine Tragödie? Die Uferform des Nichts, ergibt sie nicht ein Etwas? Man kann sich ein abhanden gekommenes Etwas denken, ausgesägt, ausgebrannt, ausgeschnitten. Das Loch zieht Neu-Gier an. Besonders das dunkle Loch beflügelt Entdeckerphantasie. Ist es ein Eingang, Durchgang in verborgene Welten? Das Loch atmet andere Luft aus als der Wind, der um die Ecken streicht. Auch die saugenden Schwarzen Löcher, in denen Materie komprimiert wird und verschwindet sind Löcher, aber ob da Etwas nicht ist? Also ist Loch auch Etwas, nur eben das unvereinbar Andere zum materiellen Etwas?
Welche Gefühlsdimensionen werden aktiviert, wenn man das Verhältnis von Leere zu Materie in die eine und andere Richtung verschiebt? Wo sind Kipppunkte von Freiraum zu Leere, von Schutz zu Würgegriff, von Stabilität zu Schwindelgefühl, von Neugier zum Zurückweichen?

Sabine Kramer 2016


Mitteilung an ein Gegenüber 2015

Mir fällt auf, dass es in mir den Bilderstreit gibt. Zum einen die Liebe zur romanischen Derbheit und der Feinheit der Gotik in menschlichen und dämonischen Darstellungen, und zum andern die Bewunderung, den Schauer inmitten „gereinigter = abstrahierter“ Formen und Räume.
Und dass ich über die Bildwelt mit meiner katholischen Kindheit verbunden bin. Von den Attributen, die den Heiligen zugeordnet werden, hatte ich schon gesprochen.
Meine Stab- und Fahnenobjekte, mit ihren Archetypen-Kopfstücken kommen von den Figuren, die bei Prozessionen mit getragen werden, z.B. ein Herz im Strahlenkranz, auf einer Stange wandert mit durch die Landschaft, während wir Kinder Blumen streuen – ein surreales eindringliches, nachhaltiges Bild.
Daneben gilt auch der Prozess: von in mir vorhandenen Bildern zur neu eroberten Bildsprache. Anhand der Boote-Serie versuche ich das aufzuzeigen. Die zwei Arbeiten Rechenboot und Doppelsegel sind die Neufindungen aus den Stangenbooten vorher.
Eine Art Methode ist der schillersche Spieltrieb in der Entwicklung, in der Suche nach Neuem:
Erst „interesseloses Wohlgefallen“, unzensiertes Herauszeichnen, jedem Produkt volle Aufmerksamkeit und Wohlwollen schenken. Keine intellektuelle Wertung. Das ist mein Fundus in mir, den ich als meinen Kern ansehe, der mich auch trägt.
In einem folgenden Prozess des Veränderns, Ableitens, Abstrahierens entstehen dann die für mich neuen „Formvokabeln“
Inhaltlich geht es in meiner Person und Werk um Einsamkeit, Gefängnis, Freiheit, Schutz, Gefahr – damit verflochten aber auch Witz, Assoziationsfreude, Neugier, Lebensgier.

Sabine Kramer 2015


Text zum Zeichnen 2005
( zu Partikelgestöber)

Jede Zeichnung, jede Notiz kann eine Folge von Zeichnungszyklen, Objekten, neuen Gründel-Bereichen eröffnen; über Jahre hinweg mein Leben begleiten.
Die Zeichnung ist der Antreiber, der reizt, nicht ich, die ich ritze.
Eine gelungene Zeichnung, die Auge und Puls flackern lässt, von der ich noch nicht weiß, was gelungen ist, das ist der Antrieb.
Es gibt ein paar herausstechende Zeichnungen, Zeichen, die in dem Geflecht des Kombinierens, Erweiterns, Rückbeziehens immer am „dransten“ sein wollen, sich überall hineindrängeln, überall mitgesehen sein wollen.
Zeichenformen wie „Menschengrundriss“, „ Pfeil“, „Kreuz“, „Parallelenstruktur“ sind eine Kerntruppe, anhand derer ich einen roten Faden durchs Labyrinth der Bildfelder verfolgen will.
Es ist schwer und zäh, verbal die Verflechtung von Anmut, Anmutung und Bedeutung aufzudröseln
Diese Zeichen sprechen mich optisch-seelisch, architektonisch-körperlich, sinnbildlich-phantastisch an. Ich spüre sie als mir entsprechende Charaktere. Ich habe sie in der Außenwelt entdeckt, und finde so Verknüpfungsmöglichkeiten, Verständigung, Orientierung zwischen mir und dem draußen.
Die ursprüngliche Wahrnehmung der Elemente war und ist eine ästhetische, dann habe ich sie gesucht, gesammelt nach ihren Bedeutungsgehalten befragt und zusammengeführt, überlagert, mit anderen Bereichen meiner Aufmerksamkeit. So entstand meine Bildsprache, von der oft gesagt wird, sie sei hermetisch, sie sei verschlüsselt, unverständlich.

Ich fand und erfand sie in einer Zeit, als ich in Frankreich reiste, um die alte europäische Architektur zu studieren. Am „nachhallendsten“ erwies sich der Gräberhügel mit vorchristlich-frühchristlich-romanischer Kirchenanlage Montmajour (Provence). Da sind Gräber in Kalkstein gehauen circa 1 Meter tief in Menschenumrissform. Der Hügel erschien mir wie ein Schweizer Käse, der Körperformlöcher hatte. Das flirrende kontrastreiche Licht ließ positiv -negativ-Eindrücke oszillieren. Es konnte sich genauso gut um fliegende Schatten (Seelen) handeln wie um unregelmäßig verstreute Tiefen im Felsenhang.

Die Idee oder der Eindruck (was weiß ich): befreite Seelen, fliegende Leiber, über Landschaften, über Architektur, über Zeit schweben zu lassen ermöglichte mir einen Ausdruck zu finden für die Trauer und das Entsetzen über den damaligen Golfkrieg. Es wurde ratz- fatz die ur- ur- ur- alte Kultur im biblischen Zweistromland zerbombt.
Da kamen mir Zeitungsfotos, erinnerte Aufnahmen vom 2. Weltkrieg: Flugzeuggeschwader, Formationen mit Bombenregen in den Sinn. Flugzeug – Pfeil: Pfeil als Zeichen für Bewegung, Bewegung in Raum und Zeit. Pfeilraster = vorrückender Flächenregen, Flächensturm, Flächenbrand, Lauffeuer – auch springende Flämmchen zum Flächenbrand vor Marseille habe ich mittendrin zum ersten mal erlebt.
Pfeile über der Golfregion meinte Überwehen mit Vernichtung, eine anrückende Plötzlichkeit, Plötzlichkeit arretiert in die Montage. So entstanden Zeichnungen von überlagerten Landschaften, Tempelarchitekturen, alten Dorfanlagen, aber auch mich unmittelbar umgebende Plätze mit eingetragenen Menschengrüppchen wie Sternbilder – überlagert mit der möglichen Plötzlichkeit, den Pfeilgeschwadern. Phantasien, Bilder, wie die Plötzlichkeit vor dem Platzen über der Welt verharrt, um dann in einem Moment alles aus- und- wegzufegen
Dass Pfeile auch die Winde, Luftströme auf der Weltkarte anzeigen, und Zyklone, und verwüstende Naturkatastrophen beinhalten, kommt als Bildinhalt und Kombinationsaspekt zu den Bombengeschwadern hinzu.
Die islamischen Selbstmörder, Körper, die sich und ihre Umgebung zerplatzen lassen, sind noch eine Realität, für die ich noch keine Notation weiß. Ich suche nach meiner Möglichkeit des Notierens.

Sabine Kramer

Zeichnung/ Nachbilder 2016
Die Zeichnungsmotive entspringen Nachbildern auf der Netzhaut, oder auch Nachbildern von Gedanken, erinnerten Bildkomplexen.